Robert Schleip Faszien | Interview mit dem Faszienexperten

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Robert Schleip ist einer der führenden Forscher im Bereich der Faszien. Wir haben es geschafft, ihn für ein Interview zu gewinnen. In einem spannenden Gespräch erzählte er uns alle neuen, wissenschaftlich belegten Erkenntnisse zum Thema Faszien und machte Schluss mit Halbwahrheiten!

Robert Schleip Faszien
Robert Schleip über das Thema Faszien ©fascialnet.com

Faszienforscher Robert Schleip

Der Faszienforscher Robert Schleip ist einer der bekanntesten und führenden Faszienforscher weltweit. Wir haben mit ihm ein langes spannendes Interview geführt:

Beschreiben Sie sich kurz in ein paar Sätzen, damit die Zuschauer wissen, wer Sie sind.

Robert Schleip: Ich bin Direktor der Fascial Research Gruppe an der Universität Ulm, die sehr spannende Forschungen macht, und international gut vernetzt im Feld der Faszienforschung, was sich zurzeit in einer Aufbruchsstimmung befindet. Das Bindegewebe hat man in der Vergangenheit gegenüber der Muskulatur, dem Kreislauf und dem Gehirn stiefmütterlich vernachlässigt und es deutet sich an, dass das Bindegewebe auch eine wesentliche Rolle spielt.

Inwieweit ist jeder Mensch vom Thema Faszien betroffen? Und was kann man sich als normaler Bürger darunter vorstellen?

Zu viel Text? Hier geht es zur Kurzfassung des Interviews mit Robert Schleip für Büroangestellte. Hier bekommst du das wichtigste Wissen auf den Punkt, dass du als Büroangestellter für dich und deinen Arbeitsalltags benötigst.

Der Normalmensch kennt das meistens vom Fleisch, von der weißen – meist nur einen halben Millimeter dicken – Hülle um ein Stück Fleisch. Der Metzger versucht das möglichst umfassend zu entfernen. Bisher hat man es als Verpackungsorgan vernachlässigt. In der klassischen Anatomie und in der Schulmedizin hat man versucht, bei den anatomischen Präparationen möglichst viel von diesem Verpackungsorgan zu entfernen, damit die Muskeln schön, deutlich erkennbar sind. Und jetzt deutet sich an, dass das nicht nur ein Verpackungsorgan ist, sondern ganz viele andere Funktionen hat.

In der klassischen Anatomie hat man unter den Faszien im engeren Sinne flächige, derbe Bindegewebsplatten verstanden. Zum Beispiel an der Fußsohle die Plantarfaszie oder am unterem Rücken die Lendenfaszie. Im weiteren Sinne rechnet man nun alle Arten von faserigem Bindegewebe dazu, weil es im Körper ein ganzkörperweit vernetztes Zugspannungsnetzwerk bildet und hier werden die Gelenkskapseln und die Muskelhüllen auch dazugerechnet. Und dann deckt sich der neue, umfassende/funktionelle Faszienbegriff mit dem, was der Laie als Bindegewebe versteht. Somit ist zum Beispiel die Achillessehne als Sehne nur eine Verlängerung der Muskelhülle der Waden (also so wie bei der bayrischen Weißwurst ist der Wurstzipfel auch nur die Verlängerung der Wursthülle) und dann wäre in diesem umfassenden, funktionellen, neueren Faszienbegriff die Achillessehne auch eine fasziale Struktur. Also deckt es sich, wie der Laie – nicht der Fachmann – den Begriff Bindegewebe benutzt. Für den Fachmann sind Knochen und Knorpel auch Bindegewebe. Für den Laien meint man nur das weiße, faserige Bindegewebe und dann kann man sagen, der Begriff ist Deckungsgleich mit dem, was der Laie unter dem Begriff Bindegewebe verstanden hat.

Was haben Faszien für eine Funktion im Körper?

Wie gesagt, bisher hat man gedacht, es ist in erster Linie ein Verpackungsorgan und es dient nur als Zugübertragung für die Muskeln. Also dass die Muskeln die Faszien als Stricke benutzen, um dann ihre Kraft auf das Skelett zu übertragen und dass die Stricke eigentlich keine andere Funktion haben, als dass sie fest genug sind und um die Spannung zu übertragen, jedoch kein Eigenleben haben und sich nicht selbst bewegen oder groß verändern können. Deswegen hat man das Thema in den letzten Jahrzehnten relativ stiefmütterlich vernachlässigt. Auch im Sport hat man gemeint, man muss das Gehirn, den Kreislauf und die Muskeln trainieren, die Stricke müssen aber nur fest genug sein. Jetzt hat man eben entdeckt – das ist auch diese begeisterte Aufbruchsstimmung in diesem Feld – dass dieses angebliche Verpackungsorgan noch wesentlich andere Funktionen hat.

Das erste ist, dass es Energie speichern und als Bewegungsenergie blitzschnell wie ein Katapult zurückgeben kann. Das ist in Sportarten, wo Beschleunigung und Schnellkraft wichtig ist, also in den meisten athletischen Sportarten von Bedeutung. Hier kommt die beschleunigende Bewegungsenergie, nicht wie man vor kurzem noch gedacht hat, primär von den schnellkontrahierenden Muskelfasern, sondern die Muskelfasern geben manchmal relativ langsam die Bewegungsenergie in das elastische fasziale Gewebe und dieses katapultartig vorgespannte elastische fasziale Bindegewebe kann die Energie blitzschnell zurückgeben. Das kann man sich so vorstellen, wie man im Mittelalter ein Katapult gespannt hat. Bei Kängurus wurde das als erstes entdeckt. Man konnte nie erklären, warum diese so wahnsinnig große Sprünge machen können, obwohl sie gar nicht sehr kräftige Muskeln haben. Man hat gedacht, sie hätten besonders viele fast twitch Muskelfasern, also das die wenigen Muskelfasern, die sie haben besonders schnell kontrahieren können – dies war aber nicht der Fall. Die historische Neuentdeckung war dann, dass man festgestellt hat, die Sprünge der Kängurus – das waren die ersten Lebewesen, bei denen man das entdeckt hat –kommen nicht daher, weil sie unübliche Muskelfasern haben, sondern weil sie unübliche Faszien haben. Die Kängurufaszien haben eine über 90%ige Energiespeicherkapazität, also wie eine rostfreie Stahlfeder. Das heißt, man gibt Energie rein und die gespeicherte Energie kann sich blitzschnell entladen. Diesen Umstand hat man als Erstes bei Kängurus entdeckt, dann bei Gazellen und später dann beim Homo Sapiens. Unsere Beinfaszien haben auch eine außerordentlich hohe Speicherkapazität und sind damit ähnlich wie bei Gazellen oder Kängurus. Das haben andere Primaten so wie unsere Artverwandten die Schimpansen oder Gorilla nicht. Man könnte sagen, die Beine des Homo Sapiens sind sehr, sehr elastische Gazellenbeine. Diese Fähigkeit, Energie speichern zu können, ist natürlich für den Sport wichtig.

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Die zweite Funktion von Faszien ist, dass sie ein Sinnesorgan sind. Sie sind sehr hochgradig, dicht besiedelt mit sensorischen Nerven. Das hat zwei Funktionen: Das eine ist, sie können eine häufige Quelle oder Ursprung von Weichteilschmerzen sein. Hier wird gerade mit Hochdruck geforscht. Dass bei vielen Fällen von Rückenschmerzen die Bandscheibe nicht die Ursache ist, wusste man schon lange. Die Bandscheibe ist von maximal ein Fünftel aller Rückenschmerzen die Ursache und somit heißt es bei der Mehrheit von Rückenschmerzen „Ursache unbekannt“. Die Ursache könnten dann die Muskeln sein, es könnten die Gelenkskapseln sein und jetzt vermutet man eben, dass ein Großteil von diesen Rückenschmerzen, wo die Bandscheiben nicht die Ursache sind – also von der Mehrheit – von der Lendenfaszie ausgelöst wird, weil diese verklebt und dadurch im Alltag verletzt wird. Das ist eine Funktion: Die Schmerzentstehung. Und die zweite Funktion ist: Es ist neben der Schmerzwahrnehmung das wichtigste Sinnesorgan für die eigene Körperwahrnehmung. Der Fachmann nennt das Propriozeption, also die Lage- und Bewegungswahrnehmung des eigenen Körpers, wie elegant man sich bewegt, ob man wahrnimmt, ohne die Augen zu benutzen, ob das Becken jetzt gekippt ist, ob man einen Rundrücken hat, also wie fein und sensibel man den eigenen Körper von Innen wahrnimmt. Hier hat man früher in den 90er Jahren gemeint, es käme in erster Linie von den Muskelspindeln oder von den Gelenkskapseln. Jetzt hat sich eben herausgestellt, es kommt in erster Linie von diesen flächenden, umhüllenden Faszien.

Warum können Faszien verletzt werden und warum löst das Rückenschmerzen aus?

-> Hier geht es zur Kurzfassung des Interviews mit Robert Schleip – die wichtigsten Erkenntnisse auf einem Blick

Der eine kann sagen, sie werden überlastet und in dem Moment der Überlastung gibt es Mikrorisse und dadurch auch manchmal Entzündungen und Verklebungen. Der andere kann sagen, sie waren zuvor unterfordert. Dieses Gesetz „use it or lose it“ oder „Nicht-Gebrauchtes verkümmert“ gilt nicht nur für das Gehirn oder für die Knochen, dass sie, wenn sie nicht sinnvoll gefordert werden, immer schwächer werden, sondern das gilt auch für das Bindegewebe. Wer sich nun aktiv und artgerecht bewegen würde, so wie unsere Vorfahren die Jäger und Sammler, hätte eine relativ kräftige und elastische Lendenfaszie, weil er mehrmals in der Woche Lasten auf den Schultern trägt, gelegentlich einen Purzelbaum macht, sich nach vorne beugt und eben in unterschiedlichen Graden in unterschiedlichen Positionen dieses große Tuch am Rücken belastet. Wenn das sinnvoll gemacht wird, dann wird es so wie Muskeln dadurch kräftiger, und die Reißfestigkeit und Dehnbarkeit wird erhöht. Wenn man als Stubenhocker es überhaupt nicht belastet, dann wird es immer dünner und wird tuchdünn wie ein sprödes Reispergament. Dann reicht eine normale Alltagsbewegung aus, wo man sich die Schuhe bindet oder einen Bleistift vom Boden aufhebt, dass das Pergament reißt. Dann kann der erste Mensch natürlich sagen, man hat es überlastet. Er hat natürlich Recht, aber ich würde eher dem zweiten Interpretator Recht geben, man hat sich nur deswegen mit dieser lächerlichen Bewegung überlastet, weil man es als Stubenhocker davor überhaupt nicht belastet hat. Also nicht benutzte Faszien verkümmern, werden dünner und ihre Reißfestigkeit sinkt.

Weiters ist bekannt, dass nebeneinanderliegende Membrane sich miteinander verbacken (=verringerte Scherbeweglichkeit) können. Normalerweise sollten sie aufeinander gleiten. Wenn sie miteinander verbacken sind, erhöht sich die Reißfestigkeit. Das ist deutlich klar, dass das Bindegewebe zu solchen Überlastungen neigt. Dazu gibt es eine Großstudie von Helene Langevin, die mit über eine Million Dollar gefördert wurde. In dieser Studie hat man die Verschieblichkeit der Lendenfaszie verglichen bei Leuten mit chronischen Rückenschmerzen und altersgleichen, gesunden Leuten, die keinen Rückenschmerz haben. Da zeigte sich, dass die Lendenfaszie bei Rückenschmerzpatienten verbackener ist. Das behindert die Beweglichkeit und es kann dann leichter zu Rissen kommen.

Was kann man tun, wenn die Faszien bereits verkümmert sind, um sie wieder stärker zu machen?

Robert Schleip Faszien

Sich wieder fasziengerecht bewegen. Das ist ein neuer Aspekt im Sport- und Fitnessbereich. Bis jetzt ging man davon aus, dass man die Faszien nicht besonders bewegen oder trainieren muss und dass sie normalerweise mittrainiert werden (was auch logisch wäre). Also man ging davon aus, dass wenn man ein Muskel- oder Herzkreislauftraining macht, die Faszien mitbelastet werden. Das stimmt natürlich, aber stimmt nur im selben Ausmaß, wie ein Bodybuilder auch seinen Kreislauf trainiert oder ein Triathlet seine Muskeln wachsen lässt, nämlich sekundär und suboptimal. Also bei jedem Bewegungstraining belastet man alle Gewebe, aber in einer unterschiedlichen Dosierung. Ein Bodybuilder hat natürlich einen leicht verbesserten Kreislauf, aber er wird im Triathlon nicht sehr weitkommen. Umgekehrt würde ein Triathlet in einem Bodybuildingwettbewerb nicht in der ersten Reihe stehen. So ist es auch mit dem faserigen Bindegewebe (funktionellen Fasziennetzwerk). Es wird normalerweise irgendwie, suboptimal mittrainiert, aber eben nicht optimal und jetzt wissen wir, wie das aussehen kann, wenn man so wie ein Bodybuilder oder Triathlet dieses Gewebe in den Vordergrund des Trainings setzt. Diese Erkenntnisse sind neu. Es sind teilweise Sachen, die schon altbekannt sind, wie federnde Bewegungen in der klassischen Gymnastikbewegung, wie Turnvater Jahn das noch gemacht hat. Bounces hat man lange Zeit verpönt (inklusive mir), weil sie keinen Sinn gemacht haben. Diese federnden Klappmesserübungen waren für die Muskeln ineffizient und es hat die Verletzungsgefahr gesteigert. Jetzt ist man draufgekommen, dass die Übungen teilweise optimal sind (manchmal kann man sie aber auch noch ein wenig verbessern), weil der Bewegungsimpuls aus der Rückfederung der kollagenen Strukturen, also von den Faszien, kommt. Um die Frage zu beantworten, wie man Faszien stärken kann: Man kann ein Sporttraining machen, wo man elastische Federungen einbaut – das aber nur zwei Mal in der Woche. Das andere wären endgradige Belastungen, wie diese zum Beispiel beim Yoga zum Einsatz kommen. Beides ist nicht eine neue Erfindung, es ist eher alter Wein in neuen Schläuchen. Dann kann man den Wein manchmal verbessern und manchmal bleibt er so gut, wie er ist.

In der Plyometrie in der Athletik gab es immer schon diese federnden Bewegungen, Sprungkraft- und Wurftraining. Der Wert wird jetzt auf diese ungefähr ein fünftel Sekunde gelegt. So lange muss die Beschleunigungsphase sein. Das hat man bei diesen hüpfenden und schwingenden Bewegungen. Das andere sind dann diese endgradigen tierräkelähnlichen Dehnungen, wie man das zum Beispiel beim Yoga hat. Hierbei aber nicht isoliert den Muskel dehnen, so wie es der Sportler mit seiner Wade macht, sondern lange Ketten. Zwei Mal in der Woche für 10 Minuten für die Faszien wären ideal. Und außerdem in Maßen elastisch federnde Bewegungen. Solche Bewegungen machen bei uns normalerweise nur Kinder, dass man hüpft und den Gummitwist verwendet. Dass würden wir gerne wieder propagieren, dass man in den Hinterhöfen wieder die Kreidezeichnungen sieht und dass die Kinder und Jugendlichen noch die Regeln von Gummitwist beherrschen. Diese hüpfenden Bewegungen gehören sehr gut dosiert und man soll sich nur langsam steigern. Außerdem gilt es noch zu beachten, dass man bei Muskeln den Trainingseffekt schon nach drei Wochen sehen und messen kann und bei den Faszien braucht es drei Monate. Das ist wie eine langsame, dafür aber umso nachhaltigere wachsende Pflanze.

Was passiert mit den Faszien selbst, wenn sie wieder reaktiviert wird?

Die Achillessehne von einem Stubenhocker reißt schon bei geringen Kräften. Hier kann die Achillessehne schon reißen, wenn er von einer 20 Zentimeter hohen Treppenstufe herunterspringt. Durch das Training nimmt die Zugfestigkeit und Speicherkapazität zu. Beim Stubenhocker ist das wie ein spröder Strick, mit dem kann man nicht Jo-Jo spielen. Bei einem trainierten Menschen ist das wie ein Gummi. Das geht mit einer morphologischen Veränderung einher, bei jugendlichen Menschen haben die kollagenen Fasern eine starke Wellung im Mikroskop. Wenn die Achillessehne gedehnt wird, glätten sich die Wellen (das wird „Crimp“ genannt) und zurren zurück, so wie krauses Haar wenn man daran zieht. Wenn man alt ist und/oder als Stubenhocker keine federnden Bewegungen mehr macht, dann gehen diese Wellungen verloren und man hat strikt gerade kollagen Fasern in der Achillessehne und anderen faszialen Strukturen und es federt nicht mehr. Durch regelmäßige, elastische Belastungen bekommt es wieder diese Wellung und wird dadurch elastischer. Die Architektur verändert sich, dadurch dass es wieder so eine sprungfederartige Wellung bekommt. Und das andere ist, die umhüllenden Faszien so wie am Bein zum Beispiel sind vorher ungerichtet, so wie beim Filzgewebe, hier gehen die Fasern in alle denkbaren Richtungen und beim Trainierten wird das wie eine Damenstrumpfhose, eine scherengitterartige Architektur. Die ist natürlich viel elastischer. Man hat dann auch eine gespanntere Körperkontur. Wenn eine Frau will, dass sie keine Winkearme hat, sollte sie möglicherweise kein Muskeltraining machen, um noch mehr Magermasse aufzubauen, sondern sie sollte schauen, dass die umhüllende Faszie wieder wie eine gut gespannte Damenstrumpfhose wird und nicht wie ein Stück Filz. Das zeigt sich eben beim Training, dass die Architektur verändert wird in Richtung Scherengitter oder Damenstrumpfhose. Das letzte, was noch passiert, ist dass der Wassergehalt wieder steigt. Je älter man wird, umso spröder wird das Bindegewebe und wenn man sich bewegt oder auch mit den Faszienrollen arbeitet oder sich räkelartig dehnt, dann presst man das wenige, aber abgestandene und verschmutzte Wasser, in dem sehr viel Abfallprodukte gespeichert sind, aus dem schwammartigen Fasziengewebe kurzzeitig heraus und danach kann es sich mit frischem Wasser wieder voll saugen. Eine spröde Achillessehne oder eine spröde Lendenfaszie hat bei alten Leuten und Stubenhocker weniger Wassergehalt und dadurch ist sie weniger dehnbar und reißt auch leichter.

Wie oft sollte man die Faszienrolle verwenden?

Wenn man die Faszienrolle dazu benutzt, Bindegewebe weicher zu machen, kann man das jeden Tag machen. Wenn man als Läufer ein Läuferknie hat, wo es an der Außenseite vom Oberschenkel so richtig fest ist und es dann speziell ein paar Fingerbreit ober dem Knie schmerzhaft ist, da will man nicht mehr Kollagen aufbauen, sondern hier will man Kollagen abbauen. Das kann man dann täglich machen. Wenn man aber mit der Rolle Spannkraft aufbauen will, dann lieber nur 2-3 Mal in der Woche, so wie die federnden Sprungübung auch. Dies sollte man dann hochdosiert machen, weil man vermutlich so, Gewebeirritationen auslöst (hier ist der Begriff Mikroverletzung mit Vorsicht zu genießen). Man reißt damit kleine filzartige Fäden an. Es ist an der Grenze zu einer beginnenden Mikroverletzung. Dann wird das Gewebe durch diese Irritationen fester. Bei einer Frau, die Cellulite hat, würde ich sagen, nur zwei Mal auf die Rolle, aber dann mit richtig herzhaften Stimulationen an der Wohlwehgrenze entlang. Bei Leuten, die zu Venenschwäche neigen, könnte es hier gefährlich werden. Man kann alles Gute in der Welt überdosieren, egal ob Wasser trinken, tanzen oder atmen. So kann man auch die Rolle überdosieren. Das schafft man, wenn man es darauf anlegt. Wenn man Thrombosen oder Venenschwächen in den Beinen hat, dann ist es denkbar, dass man sich nicht nur blaue Flecken holt, sondern auch vorübergehend Besenreiser oder sich auch Venenschädigungen holen könnte. Das ist aber gottseidank in der Praxis offenbar nur extrem selten der Fall; zumal Menschen mit schwachem Bindegewebe tendenziell eine recht geringe subjektive Druckschmerz-Schwelle haben.

Welche interessanten Studien gibt es zum Thema Faszien?

Zu den Faszienrollen gab es jetzt drei interessante Übersichtsarbeiten. In der akademischen Evidenzbasierten Medizin gibt es unterschiedliche Gütekriterien, was wissenschaftliche Forschungen angeht und die zweit oberste und damit relativ zuverlässigste Forschungsebene sind diese systematischen Übersichtsarbeiten (Systematic Reviews), wo mehrere Einzelstudien miteinander verglichen und nach vorgegebenen Kriterien gemeinsam ausgewertet werden, damit es auch nachvollziehbar ist. Es gab in den letzten Monaten drei solcher systematischen Übersichtsarbeiten zu den Fasienrollen und die kommen alle zu ähnlichen Ergebnissen. Das ist im Wesentlichen, dass es die athletische Leistung nicht dämpft, aber auch nicht verbessert. Bei Dehnungen weiß man, dass es die athletische Leistung dämpfen kann. Wenn jemand Yogadehnung zwei Minuten vor einem Stabhochsprung macht, dann braucht er sich nicht wundern, wenn er ein paar Zentimeter weniger hoch springt. Das hat man bei der Faszienrolle nicht. Der gemeinsame Nenner war, dass die athletische Leistung nicht verschlechtert wird, aber auch nicht verbessert. Verbessert wird hingegen die Gelenkbeweglichkeit und die Muskelregeneration nach dem Sport. Der sogenannte Muskelkater wird schneller verbessert als durch Massagen oder Dehnungen. Wenn ein öffentlicher Lauf ist, würde es mehr Sinn machen, anstatt der Massagezelte den Leuten Faszienrollen zu geben, weil es einen schneller aus dem Muskelkater herausbringt, als derselbe Zeitaufwand von Massagen oder von Yogadehnungen.

Vor kurzem ist ein neues Buch von Ihnen erschienen. Worum geht es in diesem Buch?

In diesem Buch geht es um das fasziale Krafttraining. Hier bin ich nicht der einzige Autor, sondern habe das Buch zusammen mit Berengar Buschmann geschrieben, einem super-kompetenten Fachmann. Wir haben geschaut, wenn jemand sowieso in ein gerätegestütztes Fitnessstudio geht, was in unserer Kultur eine große Prominenz hat, wie man diese Geräte, die in erster Linie auf das Wachstum von Magermasse, also auf das Wachstum von rotem Muskelfleisch, konstruiert sind, wie man diese mit kleinen Variationen für ein paar Minuten pro Woche so benutzen kann, um auch die weißen Gewebe, also die faszialen Bindegewebe, optimaler trainieren zu können. Mit vielen Geräten geht das. Wir machen hier im Endbereich Minibounces, Winkelvariationen und praktizieren auch eine spezifische Endermüdung. Also jemand, der steif ist, der würde dann nicht wie im klassischen 3 Satztraining die eigentliche Übungsbewegung so oft wiederholen, wie er es mit einer sauberen Ausführung über den ganzen Bewegungsbogen gerade noch schafft (das ist das typische Training), sondern er würde dann, wenn er meint, er schafft die letzte Wiederholung nicht mehr, im endgradigen Bereich noch einmal eine Endermüdung mit dem gestreckten Arm oder gestrecktem Hüftgelenk anfügen. Dabei reichen wenige Zentimeter, um den letzten Tropfen auszuquetschen und dem Gewebe zu zeigen, dass es in diesem Bereich versagt hat und dass es dort seine Regeneration so gestalten soll, dass das die neue funktionelle Mitte wird. Dieser Ansatz ist neu. Das Buch richtet sich an Laien, aber es hat auch ein paar Leckerbissen für Fachleute, die sich bis jetzt schon relativ gut im Krafttraining auskennen. Unser Ziel ist es nicht das muskuläre Krafttraining zu ersetzen – das wäre völliger Blödsinn. Faszientraining soll nicht ein neuer Trend sein, wo man sagt, Muskeltraining ist out und Faszientraining ist in, sondern es soll ein kleiner bisher fehlender ergänzender Mosaikstein sein. Jemand, der jetzt ins Fitnessstudio geht, sein Herz-Kreislauftraining dort macht und auch die Muskeln trainiert (das ist nach wie vor sinnvoll), der kann sein Training steigern, indem er zwei Mal in der Woche für ein paar Minuten fasziales Gerätetraining anhängt. Im Buch gibt es ein Basisprogramm und später auch ein Leistungstraining, wobei dieses optional ist. Das ist zum Beispiel für die Leute, die die Schnellkraft trainieren wollen, zum Beispiel für einen schnelleren Tennisaufschlag. Wem es nicht nur um Gesundheit, Wohlfühlen und einem toll aussehenden Körper geht, sondern auch um Zehntelsekunden, für den wird ein Leistungstraining angeboten, wo man dann gezielter trainiert. Das Buch wird sicher viele Nachahmer finden. Das hat es bei dem ersten Buch im Riva Verlag (Anm. Buchtitel: Faszien Fitness – wurde bereits über 100.000 Mal verkauft) auch gegeben. In diesem Buch haben wir mehr Grundlagen und klassische Übungen beschrieben. Dann hat es viele andere Bücher zum Teil auch gute gegeben, die dies auf unterschiedliche Sportkategorien übersetzt haben. Dieses Buch ist eher für Ottonormalverbraucher geschrieben, es gibt andere Bücher von mir, die sind mehr für Fachleute geschrieben. Das neue Buch könnte auch Bestsellerpotential haben, weil es auch für den Normalverbraucher geschrieben wurde und einen neuen Aspekt hineinbringt, der bis jetzt vernachlässigt wurde.

Robert Schleip InterviewWie sieht die Faszienszene international aus?

Ich forsche an der Universität Ulm in einer relativ kleinen Gruppe. In den letzten Jahren entstand eine internationale Vernetzung. In Deutschland gibt es drei Gruppen, die sehr rege miteinander kooperieren. Unser Slogan funktioniert im Moment sehr gut: „Wer das Netzwerkorgan Faszien verstehen will, der tut gut daran und profitiert, wenn er ein guter Netzwerker ist“. Also weniger auf Konkurrenz, Abschottung und Isolierung setzen, sondern auf großzügiges miteinander kooperieren. Das ist im Moment die sehr schöne Stimmung unter den Faszienforschern. Es gibt noch eine Gruppe in Chemnitz, mit der wir viel zusammen machen, und auch eine in Frankfurt. Weltweit gibt es 20-40 Gruppen, die an diesem Thema forschen, wobei manche Gruppen auch noch andere Themen mitmachen und nicht nur am Thema Faszien forschen. Nächstes Jahr gibt es den großen, internationalen „Bindegewebe in der Sportmedizin“-Kongress (Connective Tissues in Sports Medicine) an der Universität Ulm. Hier kommen dann die ganzen Weltkoryphäen und tauschen sich aus. Das gab es das letzte Mal vor drei Jahren. Der Kongress findet von 16.-19. März statt und es werden rund 200 Teilnehmer erwartet. Der Kongress ist für Fachleute wie Sportmediziner und Fitnessprofis. Bei diesem Kongress trifft sich alles, was weltweit aktiv auf einem hohen Niveau zum Thema Faszien forscht. Eines der Themen, um die es uns in Ulm dieses Jahr geht, sind Forschungsmethoden. Also anstatt nur weitere Studien zu machen, wird versucht noch einmal bessere Messmethoden zu entwickeln. Zurzeit macht man viel mit Ultraschall. Die modernen Ultraschallgeräte haben sich so verbessert. Man kann am Lebenden untersuchen, wie dick oder fest ist eine Faszie, wie verändert sie sich, wenn jemand regelmäßig auf die Rolle geht, wie verändert sie sich beim Yoga. Bei den Ultraschallgeräten verdoppelt sich die Qualität und halbieren sich die Preise alle zwei Jahre. Die neuen Geräte sind A5 große Tablets mit nur einem Ultraschallkopf, die man mit auf den Fußballplatz nehmen kann.

Vielen Dank für den interessanten Einblick in die Welt eines Faszienforschers!

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